235 Tage, allein auf hoher See, rund um die ganze Welt und als erste ins Ziel: Das hat Kirsten Neuschäfer geschafft und damit hat sie Geschichte geschrieben, nicht nur ihre ganz persönliche. Dieser Geschichte durften 8 Mitfrauen unseres Vereins Die Seglerinnen e. V. bei einem unvergesslichen Abend in Überlingen am Bodensee lauschen.
Mitte März 2024 kam die kurze Nachricht über den Seglerinnen-Threema-Kanal: Kirsten Neuschäfer, die Gewinnerin des GGR 2022/2023, kommt für einen Vortrag nach Überlingen an den Bodensee, „Wenn jemand nach Überlingen kommen möchte …“ war die Einladung aus der Bodenseegruppe zu lesen. Ufff. Das hat mich umgehauen – da will ich hin, habe mich gleich angemeldet und die tolle Einladung sehr gerne wahrgenommen. Wie wir später erfahren haben, hatte die Segelgemeinschaft Überlingen kürzlich das Angebot von Bobby Schenk erhalten, einen zuvor ausgefallenen Vortrag nachzuholen – und er brächte noch einen Überraschungsgast mit. Tja, und die Überraschung war dann Kirsten Neuschäfer, welch glückliche Fügung!
Aber von Anfang an – was ist das eigentlich, das GGR – Das Golden Globe Race 2022?
Durch Zufall bin ich irgendwann auf dieser Website gelandet – https://goldengloberace.com – Don McIntyres Retro-Segel-Regatta GGR: einhand mit alter Technik einmal um die ganze Welt! Was für ein Unterfangen und doch viel näher an dem, was für mich Segeln bedeutet als zum Beispiel auf einer IMOCA-Yacht oder gar einem SailGP-Racer. Die GGR Berichterstattung von Don und seinem Team ist sehr persönlich, menschlich und bodenständig – manchmal ging auch was schief, der Ton fehlte, die Videos wacklig usw. – aber ich war gefesselt und habe fast jeden Tag Dons Daily Tracker Review angeschaut.
Ins Leben gerufen wurde das Golden Globe Race 2018 von Don McIntyre zum 50. Jubiläum des 1968 gestarteten Sunday Times Golden Globe Race, dem ersten offiziellen Versuch, in einem Wettbewerb alleine nonstop um die Welt zu segeln. Das natürlich nicht auf der Barfuß Route, sondern vorbei an den 5 Großen Kaps und durch die hohen Breiten auf der Südhalbkugel wie den Roaring Fourties, den Furious Fifties und an Kap Horn vorbei sogar durch die Screaming Sixties.
2 Jahre vor diesem Ereignis, 1966, war der Skipper Francis Chichester in seiner 16m Gipsy Mith IV von England aus gestartet, um die Welt nach Australien und zurück an den Great Capes vorbei zu umrunden. Sein Ziel war es, die Clipper Rekorde zu unterbieten. Auf seiner Route hat Chichester allerdings einen Stopp eingelegt – und so kam es 52 Jahre später in Erinnerung an diese große Leistung zur „Chichester Class“ beim GGR – für diejenigen, die bei dem Wettbewerb einen Zwischenstopp einlegen müssen und damit außerhalb der offiziellen Wertung des GGR landen.
Beim GGR dürfen nur Langkieler von 32 – 36 Fuß mitmachen, die vor 1988 zumindest in Kleinserie (20 Boote) gebaut wurden und nur mit alter Technik ausgestattet sind: kein GPS, Wetter nur über UKW oder Wetterfax usw. Die Route sah folgendermaßen aus:
Und nun befinden wir uns im Jahr 2022, der zweiten Auflage des GGR Revivals: 16 Skipper haben sich mit Ihren Booten angemeldet und starten am 4. September 2022 in Les Sables-d´Olonne unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit im segelverrückten Frankreich. Auf ihrer Route liegen einige sogenannte Fotogates, an welchem die Boote von Don und seiner Crew empfangen und kurz interviewt werden. Hier müssen sie auch SD-Karten mit Foto- und Filmmaterial abgeben – für die Fans ein Segen, denn so kann man doch viel näher am Geschehen dran sein, für die Skipper auch anstrengend, von sich regelmäßig zu berichten und die Kamera ganz nah draufzuhalten. Neben diesen Bildern gibt es auch regelmäßige „Calls“, deren Aufzeichnungen zwar manchmal kaum verständlich sind, aber einen intensiven Eindruck vom Geschehen an Bord geben.
Über den Tracker kann man die bunten Schiffchen verfolgen, wie sie sich langsam erst durch die Biskaya und dann über den Atlantik Richtung Süden bewegen: In kurzen Abständen von wenigen Stunden werden die Positionen aktualisiert. Im Verlaufe der Tage und Wochen wird das zu meiner Routine: Ich schaue jeden Morgen, in der Mittagspause, am Abend und kurz vor dem Schlafengehen nach … wo stecken sie gerade? Was gibt es Neues zu erfahren? Wie ist das Wetter und wie wird es sich entwickeln, welche Route wird die beste sein, wie schätzen die Profis die Lage ein, zieht Sturm auf und muss Sturmwarnung gegeben werden usw.
Diese Sturmwarnungen sind Teil eines Sicherheitskonzeptes, welches bei aller Liebe zum Retrogedanken sich natürlich modernster Technologien bedient, darunter die Kommunikation mit den Solo-Skippern über Satellitentelefon, deren regelmäßig abzusetzende Tweets (über Twitter) und insbesondere die Wetterentwicklung mittels Windy von Land aus überwacht mit entsprechender Warnung an die Boote.
Mein Mitfiebern zieht sich so über Wochen und Monate hin und natürlich habe ich im Atlantik längst meine Favoritin ausgemacht: Kisten Neuschäfer, eine Südafrikanerin mit deutschen Wurzeln väterlicherseits. Sie ist als einzige Frau gestartet und liegt mit ihrer Minnehaha zwar nicht an erster Stelle, aber segelt sehr solide und vor allem: Sie segelt immer weiter. Viele Ihrer Konkurrenten müssen oder wollen vorzeitig das Rennen beenden oder zumindest einen Zwischenstopp einlegen, sei es weil sie ihre Familie so sehr vermissen, sie aufgrund von Muscheln (furchtbar lange und zähe Barnacles) mit ihrem Boot fast nicht mehr vom Fleck kommen, die Windsteueranlage bricht, sie im Sturm den Mast verlieren oder, oder, oder. Nein, bei Kirsten bleibt alles heil an Bord und beim Fotogate vor Kapstadt liegt sie auch schon recht weit vorne. Beim Weitersegeln von dort hat sie das Pech, in einer Flaute zu landen, kann dafür aber die atemberaubende Tierwelt genießen und auch den erneuten Abschied von Familie und Freunden verarbeiten.
Kurze Zeit nach dem Kap der Guten Hoffnung sinkt das Schiff von Tapio Lehtinen innerhalb von wenigen Minuten. Er schafft es in seine Rettungsinsel, Kirsten ändert ihren Kurs und kommt ihm einen Tag später zur Hilfe. Was wird sie dort erwarten? Ein völlig niedergeschlagener Tapio, der gerade seinem Schiff den letzten Salut gegeben hat, aus dem Rennen ist und um sein Leben fürchten musste? Nein, nichts von alledem: Er ist bester Laune und zu Scherzen aufgelegt. So nimmt sie ihn an Bord und beide gönnen sich erst einmal einen Schluck Rum, bevor Tapio dann von einem Frachtschiff in einer heiklen Aktion von Bord der Minnehaha mittels eines vom Frachter zugeworfenen Seils über seine Rettungsinsel aufgenommen wird. Kirsten kann durchatmen, bei gutem Wetter weitersegeln, das Adrenalin abbauen, etwas Schlaf finden und ihren Kurs um die Welt fortsetzen. Für diese Rettungsaktion bekommt sie nicht nur die verdiente Anerkennung, sondern auch eine Zeit- und Dieselgutschrift, was ihr beim Finish später gutgeschrieben wird.
Auf dem Weg nach Cap Horn liegt sie schon an zweiter Stelle und plötzlich geht einer ihrer Spinnaker-Bäume zu Bruch, den sie zum Ausbauen ihrer doppelten Fock (TradeWind-Segel) verwendet hatte. Dadurch wird sie deutlich langsamer. Glück im Unglück: Dieser Bruch bewahrte sie davor, tief in einen Sturm vor Kap Horn zu geraten, wie ihre Konkurrenten es leider taten. Zwar unter schwierigen, aber für eine so erfahrene Skipperin bewältigbaren Bedingungen gelingt es ihr, zügig weiterzusegeln.
Schließlich umrundet sie als erste Kap Horn. Der weit vorne liegende Simon Curwen muss aufgrund des Ausfalls seiner Windsteueranlage, die durch eine übergehende große Welle schwer beschädigt wurde, einen Stopp in Chile einlegen und landet schließlich so in der Chichester Klasse.
Dann ging es über den Atlantik zurück gen Norden, zunächst vorbei an den Falkland Inseln, wo sie viele Unterstützer und Freunde aus ihrer Zeit als Skipperin bei Skip Nowak unter anderem auf der Pelagic hat. Von schweren Stürmen bleibt sie verschont, aber die wochenlange Flaute um den Äquator in den Doldrums lässt sie schier verzweifeln. Beim GGR wissen die Skipper nicht, wo ihre Konkurrenten liegen – über ihre Platzierung und die Position der anderen Boote können sie nur mutmaßen, und so denkt Kirsten dass sie den Sieg während des Rumdümpelns gerade verpasst. Tatsächlich wird sie in diesem Moment von Abhilash Tomy überholt – was Kirsten aber nicht weiß. Sie erlebt hier den schlimmsten Tiefpunkt auf ihre Reise, die Flaute zerrt an ihren Nerven. In Selbstgesprächen spricht sie sich Mut zu und fordert sich auf, nicht rumzujammern und durchzuhalten. Wenn es ganz schlimm wird, legt sie hart Ruder und springt einfach über Bord. Ohne Sicherungsleine. Mit etwas Abstand zum Boot, im erfrischenden Ozean und der unendlichen Weite kann sie es wieder schätzen, zur Minnehaha zurückkehren zu können und die Geborgenheit ihres Bootes zu genießen. Als dann endlich der Wind wieder auffrischt weiß sie, dass sie, falls sie noch eine winzige Chance haben will zu gewinnen, jetzt richtig Gas geben muss. Und das tut sie. Sie holt alles aus Minnehaha raus was geht und startet eine atemberaubende Aufholjagd. Nicht ohne Grund hält sie viele Geschwindigkeitsrekorde im Verlaufe des Rennens. Tatsächlich holt sie Abhilash wieder ein und erreicht etwa 150 sm vor ihm die Küste Frankreichs vor Les Sables-d´Olonne – was sie aber nicht weiß. Ein blauer Spinnaker am Horizont lässt sie vermuten, dass sie ganz knapp auf dem zweiten Platz gelandet ist – bis zu dem Moment, in dem Sie ein Begleitbootpassagier fragt, ob sie eigentlich weiß, dass sie dieses Rennen gleich gewinnen wird. Das hält sie für einen schlechten französischen Seglerwitz – aber es stimmt! Zwar schläft kurz vor dem Ziel noch der Wind ein, aber in Begleitung unzähliger Boote und unter französischen Seglergesängen, angestimmt vom vormaligen Sieger Jean-Luc van den Heede himself, den Moment voll auskostend, schleicht Minnehaha schließlich über die Ziellinie und Kirsten kann das GGR 2022 für sich entscheiden. Was folgt ist ein triumphaler Einzug in den Hafen von Les Sable D´Olonne, unzählige Auszeichnungen – zuletzt Sports Women oft he Year der SA Sport Awards, Interviews und Vortragsabende, wie wir ihn in Überlingen genießen durften.
Diese Geschichte von Ihrem ganz persönlichen Rennen hat Kirsten am 25. April vor rund 200 Gästen fesselnd und sehr sympathisch berichtet. Aber sie startet den Vortrag nicht an der Startlinie des GGR, auch nicht 3 Jahre zuvor im Jahr 2019, als sie Minnehaha in Neufundland findet und zu Zeiten Corona größte Schwierigkeiten hat, zurück nach Canada zu kommen und ihr Boot zu präparieren, was ihr später schließlich mit Unterstützung örtlicher Handwerker und Dienstleister auf Prince Edward Island hervorragend gelingt.
Nein, nachdem Bobby Schenk den Gästen eine kurze Einordnung in die Geschichte der Solo-Weltumsegler gibt und so – als offenkundiger Fan von „der Königin der Meere“ – Kirsten anmoderiert und sie auf die Bühne bittet, startet sie, nach dem der erste Applaus das zulässt, mit einem ganz anderen Abenteuer. Dieses führte sie per Fahrrad von Berlin quer durch Europa über Spanien und dann längs durch Afrika bis ans südliche Ende ihrer Heimat, dem Kap Agulhas. Schon damals, 2006, war dazu ein Bericht in Zeit online zu lesen (und ist es immer noch). Direkt nach dem Abitur war sie nicht zu bremsen und zog aus nach Europa, um unter anderem in Finnland Schlittenhunde zu trainieren, Kälte und Schnee zu erleben und nebenbei Finnisch zu lernen (was ihr beim Lesen des Buches und der Rettung von Tapio Lehtinen selbst zu pass kam).
Angekommen am Kap Agulhas – den Atlantik zu ihrer Rechten und den Indischen Ozean zu ihrer Linken – verspürt sie die Sehnsucht nach dem Meer und beschließt, dass jetzt die Zeit gekommen ist, auf den Ozean zu gehen. Ganz gezielt vertieft sie ihre Kenntnisse im Segeln, mit dem sie schon als Kind auf einem Binnensee begonnen hatte. Sie macht die nötigen Scheine und nimmt immer anspruchsvollere Jobs auf Yachten an. Schließlich skippert sie Überführungstörns rund um die Welt. Ihre Anstellung bei Skip Nowak führt sie als verantwortliche Schiffführerin in die hohen Breiten der Antarktis. Dorthin führt sie unter anderem Filmcrews, die hier an den entlegensten Orten ganz besondere Tieraufnahmen machen wollen.
Mit dieser enormen Erfahrung von tausenden Seemeilen auf den Ozeanen der Welt geht sie ihr persönliches GGR-Projekt ganz gezielt an. Eigentlich ist sie keine Regattaseglerin, hat noch nie ein solches Rennen bestritten. Aber sie will das GGR gewinnen. Danach richtet sie alle ihre Aktivitäten aus. Sie ist nach eigenen Worten Perfektionistin, möchte das Möglichste erreichen, was in ihrem Potential liegt, und so sucht sie ganz gezielt nach dem richtigen Boot, einem Cape George Cutter, CG36, den sie auf Prince Edward Island, Nova Scotia, unter anderem mit Hilfe von Eddie Arsenault sehr akribisch herrichtet, Rumpf und Rigg verstärkt und für das Rennen hervorragend präpariert. Als „Teststrecke“ nutzt sie die schlappen 14.000 Seemeilen von Canada nach Südafrika und optimiert auf dem Weg noch ihre Messungen mit dem Sextanten. Ihre Mutter Annette unterstützt Kirsten in ihren Vorhaben sehr und hilft ihr in Südafrika die letzten Feinheiten und Vorbereitungen für das GGR fertigzustellen. Dann geht es zum Vorbereitungsregatta nach Spanien und von dort schließlich zur Startlinie, nach Les Sables-d´Olonne.
Auch Don McIntyre ist der Meinung, dass Kirsten aufgrund dieser sehr guten Vorbereitung als (seine heimliche?) Favoritin ins Rennen geht. „Ich lasse mich nicht so leicht von sozialen Normen, allgemeinen Meinungen oder Angst davon abbringen, meine Träume zu verfolgen! Aus meiner Komfortzone herauszutreten, immer wieder, ist das, was mich antreibt und meine persönliche Entwicklung durch das Leben fortsetzt.“ Das schreibt sie 2022 selbst in ihrem Alumni Update der deutschen Schule in Pretoria.
Rund 100 Bücher (einer ihrer Favoriten: The Long Way von Bernard Moitessier ) und 100 kg Einweckgläser mit schmackhaften Mahlzeiten eines französischen Kochs haben sie auf ihrem Weg über die Ozeane begleitet. Und wir durften auch ein wenig Teil haben an diesen ganz besonderen Eindrücken aus der Welt des Segelns, von Bord der Minnehaha und des Lebens einer Abenteurerin.
Im Anschluss an den fesselnden Vortrag erhält Kirsten ein persönlich gewidmetes Exemplar des Bobby Schenk Modells eines Cassens & Plath Sextanten, „Der Weltseglerin“ ist eingraviert. Sie beantwortet sehr geduldig und ausführlich die Fragen aus dem Publikum. Was sie beim nächsten Mal anders machen würde? Mehr Kaffee mitnehmen, einen Ersatzbaum für das TradeWind-Segel einpacken und das Groß so schneiden, dass der Großbaum im gerefften Zustand nach oben geht – damit bei schwerer See und entsprechender Bewegung im Schiff der Baum nicht im Wasser streift.
Später dürfen wir Seglerinnen Dank der Gastfreundschaft der Seglergemeinschaft Überlingen e. V. (SGÜ) beim gemütlichen Zusammenkommen mit Kirsten sogar das ein und andere Glas Wein an der Theke im Clubhaus trinken. Ein großes Geschenk und eine wunderbare Begegnung. Danke Kirsten, dass du dein Abenteuer GGR mit uns geteilt hast! Es war ein unvergesslicher Abend.
Martina S.