Tidentörn im Ärmelkanal

Das Fahrtgebiet unseres Tiedentörns

Ursprünglich wollten wir bereits 2020 von Frankreich über die Kanalinseln bis nach England und zurück segeln. Durch Corona verschob sich unser zweiwöchiger Törn um ein Jahr nach hinten. Aber endlich ist es soweit. Durch die Reisebeschränkungen reduziert sich unser Aktionsradius auf französisches Territorium. Unsere neue Route verläuft deshalb entlang der Küste durch die Bretagne und die Normandie, mit bekannten Städten wie Saint Malo und Cherbourgh. Weitere Highlights sind das berühmte Alderney Race und die Ile de Chausey, ein französisches Inselarchipel. Uns erwartet ein Tidenhub von teilweise mehr als zehn Metern und Gezeitenströme bis zu sieben Knoten.

Die meisten Häfen in Bretagne und Normadie sind nur tidenabhängig zu befahren. Die Anfahrt erfolgt in einer markierten Fahrrinne und eine künstliche Barriere (Sill) garantiert, dass im Hafenbecken selbst immer ein garantierter Wasserstand erhalten bleibt. Damit eine Yacht einfahren kann, muss eine Wasser über dem Sill stehen. Die genauen Zeiten, in denen eine Ein- und Ausfahrt möglich ist, errechnet man aus dem gezeitenabhängigen Wasserstand plus Tiefgang der Yacht.

Fast alle an Bord kennen das Revier bereits von der Seekarte durch den Theorieteil der Segelausbildung. Auf diesem Törn geht es nun darum, das Gelernte in der Praxis anzuwenden und tatsächlich in diesem anspruchsvollen Segelrevier unterwegs zu sein. Die jeweiligen Wasserstände und die Gezeitenströme müssen mit dem Strömungsatlas und mit Daten aus der Seekarte errechnet werden. Dazu kommen Informationen aus nautischen Unterlagen wie dem Hafenhandbuch. Unter Berücksichtigung der Wetterlage wird dann ein täglich neu ein sogenannter „passage plan“ erstellt.

Zuvor waren wir in dieser Zusammensetzung schon zweimal bei einem Skipperinnentraining in Kroatien unterwegs. In Kroatien übten wir Hafenmanöver, Navigation, Törnplanung, Ankern und vieles mehr, und verbrachten dabei eine schöne Zeit zusammen. Diesmal geht das Training eine Stufe weiter. Ich bin offiziell nicht als Skipperin dabei, sondern in beratender Funktion als Segelcoach. Wir haben die elektronische Navigation als Backup dabei, wollen aber weitgehend klassisch navigieren.

Die Marina in Dielette

Die Marina in Dielette

Unser Starthafen ist Dielette, südlich von Cherbourgh und direkt neben dem Atomkraftwerk Flamanville gelegen. Der Hafen von Dielette ist tidenabhängig. Der innere Teil der Marina ist durch ein 3,5 m hohen Sill begrenzt, der bei Niedrigwasser gut zu sehen ist. Er ist nur wenige Stunden vor und nach Hochwasser zu befahren. Die Stege im äußeren Hafenbecken liegen hinter einem nur 2 m Sill aus Sand, und können deshalb in einem relativ großen Zeitfenster angelaufen werden.

 

Stationen unseres Segeltörns

Wir starten bei Sonne und Fastflaute. Unser erstes Ziel, der Ort Cartaret, ist ein sehr hoch trockenfallender Hafen. Der Sill vor der Marina liegt deshalb relativ hoch und kann für nur wenige Stunden um Hochwasser überquert werden. Wir müssen deshalb doch den Motor zuhilfe nehmen, um rechtzeitig anzukommen. Bei der Ansteuerung kurz vor Hochwasser scheint die Wasserfläche riesig, die Einfahrt großzügig breit. Doch der Eindruck täuscht. Die Fischerboote an der Mauer werden Stunden später teilweise im Schlick liegen, übrig bleiben wird ein kleiner Priel und wenig Wasser.

Unsere Yacht, eine Jeanneau 44, hat einen beachtlichen Tiefgang von 2.60 m. An unserem Liegeplatz ist maximal 2 m Wassertiefe, und bei Niedrigwasser sitzen wir unbeweglich und bugwärts leicht erhöht im Schlick. Nachts regnet es heftig und Schauerböen drücken uns gegen den Steg. Um 6.00 Uhr hat sich das Wetter zum Glück beruhigt, denn mit Sonnenaufgang und Hochwasser müssen wir aufbrechen. 52 Seemeilen sind es bis Saint Malo, unser nächstes Etappenziel. Schöner Segelwind beglückt uns über weite Strecken, und mühelos erreichen wir im Reff gute acht Knoten speed durchs Wasser.

Die Ansteuerung von Saint Malo ist navigatorisch anspruchsvoll. Es gibt jede Menge vorgelagerte Felsen und Inselchen, viele Seezeichen und verschiedene Fahrwasser, über 10 m Tidenhub und starke Strömungen. Und im Zusammenhang mit dem Vollmond ist auch noch Springzeit, das heißt, die Gezeitenunterschiede sind besonders groß. Wir entscheiden uns für die Einfahrt durch das südöstliche Nebenfahrwasser, das kurz vor der Stadt ins Hauptfahrwasser mündet. Danach geht es in die Schleuse und dann weiter in den Stadthafen.

St. Malo Stadthafen

Zwar ist die Anfahrt auf Saint Malo tidenunabhängig, aber die Schleuse zum Stadthafen wird, ungeachtet der Wasserstände, nur 3 Stunden +/- Hochwasser bedient. Beeindruckend, in dieser ehemaligen Freibeuter-Piraten Hochburg einzulaufen und direkt unter der Befestigungsmauer der alten Stadt anzulegen. Den kommenden Tag bleiben wir in Saint Malo. Zum einen ist regelrechtes Schietwetter, zum anderen ist die alte Stadt in jedem Fall einen Aufenthalt wert. Schon der Gang um die Festungsmauer bietet vielfältige fotogene Ausblicke.

Saint Quay-Portrieux und Saint Cast haben auf unserer Route im Bereich der Bretagne die einzigen wirklich tidenunabhägigen Marinas, die immer angelaufen werden können. Beides sind gleichzeitig auch lohnenswerte Destinationen.

Schon die Ansteuerung von Saint Quay-Portrieux ist reizvoll, wir umsegeln eine kleine schärenartige Insel mit prägnantem Leuchtturmhäuschen. Die Marina hat zurecht super Bewertungen. Wir werden von einem freundlichen Menschen im Schlauchboot in Empfang genommen, der beim Anlegen hilft und uns danach ein Welcome-Paket überreicht. Wir sind die einzige durchreisende Yacht zu dieser Zeit und bekommen einen Liegeplatz längseits direkt unterhalb der Restaurants. Im Bojenfeld außerhalb der Marina bestaunen wir die trocken fallenden Boote der Einheimischen.

Auch Saint Cast, nur 25 Seemeilen weiter südlich, kann zu jedem Tidenstand angelaufen werden Hier sollte man sich Zeit nehmen für einen Spaziergang auf dem Küstenwanderweg, der tolle Ausblicke bietet. Direkt am Hafen gibt es ein Fischrestaurant, mit Hummer und Garnelen frisch aus dem Aquariumsbecken. Außerdem lohnt ein Abendspaziergang den Strand entlang zum Ort. Wir sehen von hier aus den aufgehenden Vollmond über dem Meer.

Auf dem Weg zurück laufen wir Saint Malo noch ein zweites Mal an. Dieses Mal möchten wir im Yachthafen übernachten, der tidenanhängig über einen Sill erreichbar ist. Das Anlegen dort ist gar nicht so einfach. Zusätzlich zum Wind haben wir heftige Strömung im Hafenbecken. Und wo wir mit unserer 44 Fuß Yacht überhaupt anlegen dürfen, ist auch nicht klar. Schließlich gehen uns hilfreiche Einheimische beim Anlegen zur Hand.

Um 6.00 Uhr morgens legen wir mit dem Hochwasser wieder ab, denn wir möchten noch mit halber Tide auf den Ile Chausey ankommen.

Die Ile Chausey ist ein zu Frankreich gehörendes vorgelagertes Inselarchipel und Naturschutzgebiet. Sie besteht aus unzähligen Felsen, Klippen und Inselchen. Mit 2,60 m Tiefgang und bei Springtide haben wir nur eingeschränkte Möglichkeiten dort anzulegen, die meisten Gästebojen liegen zu flach für uns. Wir machen an einer unbesetzten Privatboje fest. Trotz trübem Wetter ist das Naturschauspiel großartig. Der Rundumblick, untermalt mit diversen Vogelgeräuschen, lässt sich mit der Kamera kaum einfangen. Gerade jetzt bei Springtide verändert sich der Wasserstand und damit die komplette Aussicht in schnellem Tempo.

Lagen wir bei Niedrigwasser sichtbar quasi in einem Priel, nimmt der Wasserstand danach schnell wieder zu. Zwei Stunden nach Niedrigwasser brechen wir wieder auf, um noch mit auflaufendem Wasser in Grandville anzukommen.

Granville ist eine richtige Stadt, die sich hoch über den Klippen erhebt und von einer imposanten Stadtmauer umgeben ist. Die Marina ist von einem hohen Sill umgeben, die Einfahrt ist für uns nur wenige Stunden um Hochwasser möglich. Das beeindruckend große Hafengelände verfügt über verschiedene Anlegemöglichkeiten, über ein Becken für die gewerbliche Schifffahrt bis hin zum trocken fallenden Teil mit dem üblichen Bojenfeld.

Als nächstes erwartet uns wieder ein langer Schlag. 56 Seemeilen werden es bis Dielette, unsere Zwischenstation auf dem Weg nach Cherbourgh. In Dielette gehen wir im äußeren Hafenbecken längsseits. In das innere Becken können wir nicht, da wir zur Abfahrtszeit am kommenden Morgen noch nicht über den Sill fahren könnten. Denn morgen soll es durch’s Alderney Race nach Cherbourgh gehen, ein Höhepunkt unseres Tidentörns. Bis zu 7 Knoten Strom erwarten uns, alles muss gut geplant und berechnet sein, die Zeiten müssen exakt stimmen.

Pünktlich legen wir morgens um 6.30 Uhr ab. Wir haben strahlenden Sonnenschein und einen klaren Blick auf das Atomkraftwerk. Wir motoren in Totalflaute. Trotzdem spannend genug, die einsetzende Strömung zu beobachten, den aufziehenden Nebel und die strömungsbedingten Verwirbelungen. Spannend ist auch, das Alderney Race auf der Höhe von Cap de La Hague in Rauschefahrt zu passieren. Ruckzuck sind wir in der Ansteuerung des weitläufigen und tidenunabhängig zugänglichen Hafens von Cherbourgh.

Den Nachmittag nutzen wir für einen Stadtbummel durch Cherbourgh. Die Stadt wirkt etwas trostlos und ausgestorben, was sicher auch mit dem coronabedingt geringen Touristenaufkommen zu tun hat. Cherbourgh ist traditionell eine Stadt der Durchreisenden. Von hier aus starteten seinerzeit viele Auswanderer nach Übersee, dazu gibt es hier auch ein spezielles Museum.

Um günstigen Segelwind zu nutzen und um am Donnerstag für die Rückfahrt durchs Alderney Race eine gute Startposition zu haben, entscheiden wir uns am nächsten Tag für einen kurzen Schlag nach Omonville. Dort gibt es ein schön gelegenes Bojenfeld, an dem wir mit einem malerischen Rundumblick und mit einem tollen Sonnenuntergang beschenkt werden.

Beim Ablegen morgens hängt schon eine Nebelschicht in der Luft, die sich weiter verdichtet. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch und es ist so kalt, dass sich Rauhreif an den Mützen absetzt. Wir flitzen mit teilweise gut 10 Knoten Fahrt über Grund bei Nebel durch das Alderney Race, das ist schon etwas unheimlich. Wir beobachten Radar und AIS und halten Schallsignal bereit, denn Fischerboote können hier in Küstennähe unterwegs sein.

Die Nebelsuppe bleibt uns erhalten bis zur Einfahrt nach Dielette um die Mittagszeit. Den Nachmittag nutzen wir noch zum Strandwandern und Abschiednehmen von der Gezeitenküste, bevor es am nächsten Tag in aller Frühe wieder nach Hause geht.

Fazit

Wir hatten einen wunderbaren Törn und haben viel gesehen, gelernt und erfahren. Es war trotz Sommer ziemlich kühl und feucht. Wir waren froh über unsere Merino Unterwäsche, über unsere guten Segeljacken, Segelhosen und Stiefel.

Auch wenn wir wegen der coronabedingten Einschränkungen nicht, wie ursprünglich geplant, auch die Kanalinseln und Südengland anlaufen konnten, so waren allein die Bretagne und die Normandie allemal eine Reise wert.

Wir haben uns während unseres Törns intensiv mit den komplexen Anforderungen der Tidennavigation auseinandergesetzt und zunehmend Routine gewonnen beim Segeln mit den Gezeiten.

Navigieren und Segeln im Ärmelkanal

Im Gezeitenrevier bestimmen Strömung und Wasserstand maßgeblich, wann wir wohin fahren können. Die Mondphasen haben Auswirkung auf den Tidenhub und damit auf die Stärke der Strömung und legen mit dem sogenannten Alter der Gezeit die Nippzeit und die Springzeit fest. Wasserstand und Strömung muss also für jeden Ort und Zeitpunkt immer neu berechnet werden. Dafür gibt es jährlich neu erscheinende Berechnungsgrundlagen.

Die Art der Tidenberechnung ist nicht länderübergreifend standardisiert und unterscheidet sich beispielsweise in Frankreich, England und Deutschland. Dies betrifft den Aufbau der nötigen Unterlagen und deren Anwendung bei der Berechnung von Strömung und Wasserständen. Wer in Deutschland den Segelschein gemacht hat, sollte sich vor einer Segeltour im Ärmelkanal mindestens mit der englischen Art der Tidennavigation befassen.

Wir hatten uns bereits im Vorfeld zur Törnplanung den englischsprachigen „Shell Channel Pilot“ von Tom Cuncliffe angeschafft. Enthalten sind auch die aktuellen Imray Seekarten zum Download. Dieser Revierführer war für uns eine sehr hilfreiche Ergänzung für die Navigation. An Bord war als Grundlage für die Gezeiten- und Stromberechnungen der „Bloc Marine“ (das französische Pendant des englischen „Reeds – Nautical Almanac“), sowie ein französischsprachiger Revierführer. Beides war aufgrund der Sprache und der Berechnungsweisen (beides französisch) gewöhnungsbedürftig für uns.

Ebenfalls berücksichtigt werden müssen die örtlichen Zeitangaben in den verschiedenen Quellen. Mal ist es UTC mal local time, mal local summer time… Wir haben während des Törns viel Zeit mit navigatorischen Berechnungen verbracht, und zunehmend Routine gewonnen. Es war gut, dass wir zwei Wochen Zeit hatten, so konnten wir immer mehr hineinwachsen in das Leben und Segeln mit der Tide.

Für die tagesaktuelle Törnplanung, das sogenannte „Passage Planning“ müssen die Ergebnissen der Tidenberechnungen mit den zu erwartenden Wind- und Wetterverhältnissen verknüpft werden. Hier muss möglicherweise Wind gegen Strom berücksichtigt werden, oder auch schlechte Sichtverhältnisse durch häufig auftretenden Nebel.

Monika Lehn, Mitfrau der Seglerinnen, Skipperin und Segelcoach, www.monika-lehn.de